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Problemgeschichte und Entwicklung der Psychotherapie

Skriptum zur Lehrveranstaltung

Isaias Costa, Version von 13. Jänner 2016


Inhaltsverzeichnis

1 EINFÜHRUNG
2 DAS PROBLEM DER PSYCHOTHERAPIE
2.1 Die Rolle des Wahnsinns in der Geschichte
2.2 Die kulturhistorische Sicht
2.3 Eine existentialistische Frage
2.4 Die wissenschaftliche Frage
3 ENTWICKLUNG DER PSYCHOTHERAPIE
3.1 Umgang mit dem Wahnsinn vor der Psychoanalyse
3.2 Ein Vergleich von Psychotherapiemethoden
3.3 Psychoanalyse
3.4 Verhaltenstherapie
3.5 Personzentrierte Psychotherapie
3.6 Gestalttherapeutische Psychotherapie
3.7 Systemische Psychotherapie
4 SCHLUSSFOLGERUNGEN
5 Literaturliste

1. EINFÜHRUNG

In diesem Workshop befassen wir uns mit der Frage: Was ist das Problem, mit dem sich die Psychotherapie befasst, und wie hat sie sich entwickelt?

Diese Frage werden wir auf zweierlei Arten angehen: zunächst aus einer kulturhistorischen Perspektive. Was bedeutet der Begriff Wahnsinn? Wie wurde er im Laufe der Zeit im Abendland konstruiert, wie hat er sich zur heutigen "psychischen Störung" entwickelt, was für eine Funktion hat er gespielt bzw. spielt er heute? Die Frage wird in verschiedenen Bereichen vertieft, wie zum Beispiel: der Wahnsinn als Gegenspiel zur Vernunft, das existentielle Dilemma zwischen Identität und Anpassung, oder der Bezug zwischen Psychotherapie und Wissenschaft.

Nach dieser historischen Kontextualisierung werden wir im zweiten Kapitel anahnd von Beispielen verschiedene Psychotherapiemethoden vergleichen und auch über ihre historische Entwicklungen sprechen.

2. DAS PROBLEM DER PSYCHOTHERAPIE

Wenn wir uns über das Problem der Psychotherapie Gedanken machen, nehmen wir gezwungenermaßen einen Standort ein, der schon sehr eingeschränkt ist. Der Begriff "Psychotherapie" hat sich im deutschen Sprachraum, und da erst am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts durchgesetzt. Das ist eine zu kurze Optik.
Wechseln wir den Standort und fragen wir uns nach dem Objekt der Psychotherapie - da kommen wir zu Begriffen wie psychische Störung, seelische Krankheit, Irrsinn, Unsinn, Wahnsinn. Der Wahnsin ist ein Begriff, der schon im Mittelalter vorhanden ist. Er kommt aus dem althochdeutschen "wanwizzi", wobei wan ursprünglich „leer, mangelhaft“ bedeutet. "Wahnsinn" bedeutete daher „ohne Sinn und Verstand“. Dagegen hat das Wort "Wahn" mit falschen, eingebildeten Hoffnungen, Bessenheit zu tun. Davor finden wir im Althochdeutschen die Worte sinnelösi, tobunga und unsinnigi; die mit den lateinischen dementia, alienatio und insipientia korrespondieren.
Wie die Worte so hat sich auch die Rolle des Wahnsinns im Laufe der Zeit verändert.

2.1 Die Rolle des Wahnsinns in der Geschichte

Wir geben hier ein paar Bilder, die im Laufe der Zeit mit dem Wahnsinn verbunden waren:

Narr
Nun sind unser zwey . Narrenspiegel am Rathaus von Nördlingen
Schamane
Schamane aus der Mongolei

Der Hofnarr zum Beispiel hatte einen Platz am Hof und viel Freiheit. Er wurde zwar belacht, war aber gleichzeitig als Träger tieferen Sinns bekannt.
Der Hofnarr war oft ein fester Bestandteil des Hofstaates. Die Hofnarren sollten ursprünglich ihren Herrn nicht belustigen, sondern ihn als ernste Figur ständig daran erinnern, dass auch er der Sünde verfallen könne, und er diente seinem Herrn in religiöser Deutung als Erinnerer an die Vergänglichkeit seines menschlichen Daseins. Sie waren also eine soziale Institution zulässiger Kritik. Sie hatten eine gesonderte Stellung und waren an gesellschaftliche Normen nicht gebunden.
In der Abbildung rechts macht die Inschrift "wir sind zwei" die Sonderstellung des Narren herrlich sichtbar. Sie spricht auch die künstliche Trennung zwischen Vernunft und Wahnsinn an und überrascht, in dem sie den Betrachter gleichfalls als Narren bezeichnet.
Narren waren aus heutiger Sicht Geisteskranke, oder Menschen mit geistigen oder köperliche Behinderungen. Mit der Zeit hat es auch "künstliche" Narren gegeben - Schauspieler, die die Rolle der Narren gespielt haben.

Auch Heilige würden wir vielleicht heute Geisteskranke nennen. Denn das Phänomen einer Vision ist von außen nicht von dem einer Halluzination, optischen oder akustischen Wahnvorstellungen zu unterscheiden. Ebenso ist eine religiöse Ekstase aus psychologischer Sicht nichts anderes als ein veränderter Bewusstseinszustand. Auch negativ bewertete Zustände wurden damals mit Bessenheit durch fremde Geister erklärt. Vom Teufel besessen zu sein erinnert an multiple Persönlichkeitsstörung (Siehe dazu den packenden Film Frankie und Alice).
Auch in anderen Kulturen hat der Wahnsinn eine andere Bedeutung. Zum Beispiel im Schamanismus werden psychotische Zustände willentlich hervorgerufen um Zugang zu Visionen, zum Jenseits zu bekommen. Psychose wird hier nicht als eine Krankheit, sondern als eine alltägliche Erscheinung, die das Leben bereichert, gesehen. In einem Weltbild, in dem Jenseits und Diesseits nicht so streng getrennt sind wie in unserem, gehört es zum Alltag, dass eine Person spontan einen "Geist inkorporiert", dieser für ein paar Minuten da ist, von den Anwesenden wahrgenommen und begrüßt wird, um dann wieder zu gehen. Keiner würde auf die Idee kommen, diese Person als krank zu sehen. Sie wird nicht ausgeschlossen, sie wird nicht behandelt. Sogar eventuell im Gegenteil: sie wird geschult, um diesen psychotischen Zustand bewusst und in einem sicheren Rahmen herzustellen.

Zusammenfassend sehen wir, dass eine Person mit psychischer Störung in Laufe der Zeit und in anderen Kulturen unterschiedlichst verstanden, bzw. interpretiert wurde. Es ist sehr spezifisch von unserem Kulturkreis, sie als eine Krankheit zu sehen und eine Heilung anzustreben.

2.2 Die kulturhistorische Sicht

Michel Foucault hat sich mit dem Thema intensiv beschäftigt (Wahnsinn und Gesellschaft). Sein Werk hat die sogenannte Post-Moderne zutiefst geprägt. Es geht ihm darum, unsere Kultur heute zu verstehen. Dazu beschäftigt er sich mit der Frage der Macht und wie wir die Gesellschaft gestalten. Unter anderem geht es um die Feststellung, dass wir der Vernunft einen sehr hohen Stellenwert geben. Um das zu vollziehen, war es notwendig, ihren Gegenspieler - den Wahnsinn - zunächst auszugrenzen. Das bezieht sich auf das frühe Mittelalter, wo die Narren besonders gekleidet wurden, so dass man sie sofort erkennen konnte. Der Wahnsinn hat zwar noch zur "normalen" Gesellschaft gehört, wurde aber durch diese Kennzeichnung für die Vernunft weniger bedrohlich.
Danach kommt zu einer Phase der Ausgrenzung. Der Wahnsinnige wird eingesperrt und verdrängt. Es entstehen die Irrenhäuser (in Wien ist der Besuch vom Narrenturm im Alten AKH sehr zu empfehlen). Die Irrenhäuser waren zunächst einfach Gefängnisse, Verließe, wo sie ausgesperrt und vergessen wurden.
Mit der Zeit wurde der Narr mehr als Patient gesehen und daher auch gepflegt und behandelt. Das Ziel der Irrenhäuser war aber viel mehr das Gefügig-machen für die Gesellschaft als das Wohlbefinden der Patient_innen. Die Irrenhäuser erfüllen so zwei Funktionen: zum Teil sind sie ein Schutz für die Betroffenen, sie werden genährt und gepflegt. Gleichzeitig schützen sie auch die "normale" vernünftige Gesellschaft vor den Wahnsinnigen, vor dem Wahn selbst. Dieses Thema ist in vielen Kunstwerken behandelt worden, speziell in dem Film Le Roi de cœur des Regisseurs Philippe de Broca.

An dieser Stelle (1:36:17) ist dargestellt, wie die Irren mit dem bevorstehenden Rückzug der Normalen den Schutz des Irrenhauses suchen. Um hineinzukommen legen sie ihre Masken ab. Das Tor wird von ihnen selbst zugesperrt und sie behalten den Schlüssel (1:38:21).
Heute leben wir in einer Zeit, wo wir nach massiver Kritik an den Irrenhäusern (s. zum Beispiel den Film Einer flog über das Kuckucksnest und Die besten Jahre) zu einem Konsens gekommen sind, dass Personen nur in sehr speziellen Situationen, in denen sie sich selbst oder andere unmittelbar gefährden, in ihrer Freiheit eingeschränkt werden können. Die Ausggrenzung passiert aber immer noch, und zwar durch die Brandmarkung der Diagnose einer Krankheit. Manche Diagnosen spielen heute die Rolle der Mauer der Irrenhäuser.

Dieses Thema des Zusammenhangs zwischen Vernunft und Wahnsinn ist nahe verwandt mit dem sogenannten Problem des Anderen12. Der Psychoanalytiker und Soziologe Tzvetan Todorov spricht über die Schwierigkeit, die wir in unserer Kultur haben, mit den "anderen" umzugehen. Wir tun uns sehr schwer, mit jemandem, der grudsätzlich anders ist als wir, umzugehen. Wir nehmen automatisch eine Haltung an, die ihn entweder verleugnet, verdrängt, vernichtet oder ihn intergiert, assimiliert. Sein Anders-Sein wird aber am liebsten aus der Welt geschafft. Das sehen wir heute symptomatisch bei dem Umgang mit den Ausländern: die radikalen Parolen gehen in Richtung "Ausländer raus" oder "sie sollen gescheit deutsch lernen". Den Nachbarn als einen Träger einer anderen Kultur neben uns zu dulden, uns gar an seiner Gegenwart erfreuen, das erfordert sehr viel persönliches Engagement und innerliche Veränderung.
Genauso geht es uns mit der Psychotherapieklient_in. Unsere größte Herausforderung als Therapeut_in ist eben die, uns auf sie als eigenständige Person einzulassen, in der Spannung zu bleiben und zu erleben, dass sie anders tickt als ich, und sie doch zutiefst zu verstehen.

2.3 Eine existentialistische Frage

Aber dieses kulturgeschichtliche Problem ist gleichzeitig auch ein existentialistisches. Wir entwickeln uns und reifen in der Auseinandersetzung mit der Frage zwischen Identität und Anpassung. Wir sind dauernd in einem Balanceakt zwischen diesen zwei Extremen: es ist uns total wichtig, unserer Person treu zu sein, zu uns zu stehen, unseren ureigenen Bedürfnissen nachzugehen; Und gleichzeitg ist es ein Primärbedürfnis, in der Gesellschaft integriert zu sein, die Geborgenheit des Nests zu spüren.
Diese Frage ist nicht ein solche, für die wir einmal eine Antwort gefunden haben und dann können wir sie vergessen. Nein, viel mehr ist sie eine solche, die wir im unseren Sterbestunden noch immer stellen werden.
Diese Frage, die in der Persönlichkeitstruktur wohnt, hat eine Gegenspielerin in der Modekrankheit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung 1). Hier wird heftig debatiert, ob hyperaktive Kinder mit einer Diagnose und einer Behandlung, die eine Anpassung in der Gesellschaft erleichtert, entgegnen werden sollten, oder ob es nicht der Gesellschaft obliegt, ihnen mit ihren speziellen Bedürfnissen einen geeigneten Platz anzubieten.

2.4 Die wissenschaftliche Frage

Ein weiterer Aspekt, der die Grundlage der Psychotherapie ausmacht, ist die Frage nach ihrer Wissenschaftlichkeit.
Psychotherapie liegt an einer wichtigen Grenzen von dem, was Wissenschaft erbringen kann. Eines der Fundamente der Wissenschaftlichkeit ist die Wiederholbarkeit - kein seelischer Prozess ist wiederholbar. Wissenschaft sucht nach Verallgemeinerung - jede Person ist ein Unikat. Wissenschaft basiert auf eindeutigen Aussagen - psychische Erfahrungen sind vieldeutig, das Unbegriffliche ist zeitweise das Wesentliche. Wissenschaft zielt auf objektives Wissen - für psychische Prozesse ist das Subjektive von Bedeutung.
Gleichzeitig hat aber die Psychotherapie den Anspruch, eine wissenschaftliche Methode zu sein. Das tut sie in der Suche nach Qualitätssicherung aber auch als notwendiges kulturelles Mandat unserer Zeit.
Um diese epistemologische Spannung zu verstehen, ist es hilfreich, die Geschichte der Wissenschaft anzuschauen.
Die Wissenschaft ist im alten Griechenland entstanden. Zuerst waren die alten Denker wie Heraklit und Parmenides da. Sie wunderten sich darüber, dass wir in der Welt sind. Herkalit führte den Logos ein, Parmenides die Physis. Diese Begriffe wurden später in Verbum - Wort und Natura - Natur übersetzt, und in einem vereinfachten Sinn stellen sie die Spannung zwischen Subjekt und Objekt dar. Aber zunächst war diese Spannung in den Worten selbst enthalten: Der Logos spricht über diese Spannung, in dem er als ein Fluß gedacht wird, in den man nie zweimal steigen kann. Die Physis ist die Essenz der Dinge, das was sich nie verändert. Zwei Zugänge, ein Staunen - dass es überhaupt möglich ist, über die Welt, in der wir sind, zu sprechen.
Das wurde zu einem Hype. Es enstanden Schulen, in denen gelehrt wurde, als Denker zu sprechen, Rhetorik, Sophismen... Mit der (griechischen) Sprache kannst du nicht nur über die Welt sprechen, du kannst auch die Welt beherrschen!
Dagegen haben sich dann die Philosophen formiert, die das Wissen geliebt haben, und die zwischen gutem und schlechtem Denken unterscheiden wollten, die den Widerspruch beseitigen wollten. Den Höhepunkt in der Antike bildet dann Aristoteles, mit seinen zwei großen Werken, die Physik und die Metaphysik, die heute in die Wisssenschaft und die Philosophie gemündet sind. Auf dieser Reise aber verloren sie die innere Spannung, den Widerspruch.
Nach dem Mittelalter erleben wir eine Renaissance der Wissenschaft, die im Ausspruch Galileos besonders prägnant ausgedrückt ist. Er sagt, dass es der Sinn der Wissenschaft,

alles zu messen, was messbar ist

Damit drückt er den Dominanzanspruch der Wissenschaft sehr gut aus. Aber er bleibt nicht dabei. Dem Satz setzt er noch hinzu:

alles messbar machen, was nicht messbar ist!

Damit macht er - nein eigentlich spricht er nur aus, was Aristoteles schon vollzogen hatte - aus der Wissenschaft ein politisches Programm. Das bedeutet, dass wir kulturell in einer Welt leben, in der wir automatisch dazu "genötigt" werden, alles zu erklären, alles unter die Obhut eines rationales Diskurses zu bringen.

Selbstbezug
Drawing Hands von M.C.Escher (dieses Bild ist copyright geschützt und wird hier als "faire" Benützung zur Illustration eines Selbstbezugs benützt)

Gleichzeitig aber ist dieses Mandat nicht vollstreckbar. Der Widerspruch lässt sich nicht aus der Welt schaffen (das wurde sogar in der strikten Mathematik durch den Unvollständigkeitssatz von Gödel erwiesen). Historisch ist es nachvollziehbar, denn bei Heraklit und den anderen Alten war der Widerspruch ja enthalten. Aristoteles hat ihn nur "vergessen" (ich beziehe mich hier auf die Seinsvergessenheit von Heidegger). Der Grundgedanke hinter dem mathematischen Theorem ist der, dass es nicht möglich ist zu garantieren, dass in jedem Diskurs kein selbstbezogener Satz enthalten ist. Ein Selbstbezug ist ein Satz über den nicht gesagt werden kann, ob er richtig oder falsch ist. Wenn ein solches "Tier" in deiner Theorie enthalten ist, dann bist du aufgeschmissen, deine Theorie ist wertlos. Ein einfaches Beispiel ist folgender Satz:

"Dieser Satz ist falsch"

Du kannst dich nie entscheiden, ob er falsch oder richtig ist. Denn wenn er richtig ist, dann besagt er, dass er falsch ist... und wenn er falsch ist, dann ist seine Aussage eben richtig...!
Nun, was Gödel sagt ist, dass wir nie von vornherein auschließen können, dass ein solcher Satz in einer Theorie inkludiert ist.
Diese Sachlage gilt in der Mathematik. Sie gilt in der Physik, und in allen anderen Naturwissenschaften. Sie gilt auch für alle anderen Wissenschaftsparadigmen.
In der Psychotherapie, eine Wissenschaft dessen Untersuchungsbereich der Mensch selbst ist, sind wir die ganze Zeit mit dem Selbstbezug konfrontiert. Carl Rogers hat das erkannt und ein wichtiges Symposium mit dem Titel "Man and the Science of Man", in dem Wissenschafter und Philosophen aus verschiedensten Richtungen teilgenommen haben, organisiert.
Das ist vielleicht eine Erklärung, warum in der Psychotherapie immer neuen Methoden entstehen. Wir bewegen uns viel mehr in Richtung Methodenvielfalt als in Richtung Vereinheitlichung. Und es ist gut so, denn wie es leicht zu beobachten ist, entwickeln sich sehr erfahrene Psychotherapeut_innen immer mehr weg von einer Orthodoxie in Richtung einer eigenen Vorgangsweise, die Ausdruck der persönlichen individuellen langen Berufs- und Lebenserfahrung ist.

3 ENTWICKLUNG DER PSYCHOTHERAPIE

3.1 Umgang mit dem Wahnsinn vor der Psychoanalyse

Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben war der Wahnsinn lange nicht als Krankheit gesehen. In der Neuzeit wurde er als Gegenspieler der Vernunft zuerst ausgegrenzt. Für die Träger des Wahnsinns, die Wahnsinnigen, bedeutete es, selbst ausgegrenzt zu werden. Zuerst, wie die Lepra-Kranken, durch Kennzeichnung und Verbannung von der Gesellschaft. Bald aber auch durch Wegsperren im Narrenturm oder andere Verließe. Erst im 19. Jahrhundert wird der Wahnsinn als Krankheit gesehen, die auch behandelt gehörte.
Diese Krankheit wird medizinisch behandelt, die Methoden bezwecken die Ruhestellung der Patient_innen, die Anpassung in der Gesselschaft. Es ist in diesem Kontext, in dem Freud und andere Pioniere der Psychotherapie ihre Arbeit starten. Freuds Theorie hat aber das naturwissenschaftliche Paradigma der Medizin gesprengt. Diese Spannung begleitet Freud in all seinem Werk und wird vom ihn immer wieder thematisiert.

3.2 Ein Vergleich von Psychotherapiemethoden

Im Workshop werden wir an dieser Stelle fünf representative Psychotherapiemethoden anhand einer Falldarstellung miteinander vergleichen. Wir tun es in Anlehnung an das Buch Jaeggi, E. (1997) "Zu heilen die zerstoßnen Herzen. Die Hauptrichtungen der Psychotherapie und ihre Menschenbilder" 7 Dort stellt sie einen reellen Fall vor, der psychoanalytisch behandelt wurde. Sie beschreibt dann jeweils eine (fiktive) Sitzung in den fünf augewählten Methoden.

3.3 Die Psychoanalyse

Der große Durchbruch, den die Psychoanalyse vollzogen hat war der, in einer Welt, die sich am Höhepunkt der Faszination der Vernunft befunden hat, zu behaupten, das Unbegriffliche sei wichtig2. Freud geht in seiner Traumdeutung5 soweit zu behaupten, dass Bilder und Worte, an die wir uns von der Nacht erinnern auf eine unvollständigen Traumarbeit zurückzuführen ist. Wenn alles gut funktioniert, dann arbeitet der Traum so, dass alles unter Verschluss bleibt. Das Unbegriffliche ist so der Zweck der psychischen Arbeit. Das, was bewusst in Wort zu fassen ist, das kümmert die Psychoanalyse wenig.

Hier ist nicht der Ort, die Methoden ausführlich zu erklären. Ein paar Merkmale möchte ich dennoch schlagwortmäßig hervorheben:
Für alle sogenannten tiefenpsychologischen Methoden ist ein ausgereiftes Konzept des Unbewussten zentral im Theoriegebäude. Es gibt eine ausgedehnte Theorie der Persönlichkeit und wie sich diese in den verschiedenen Altersstufen entwickelt (Objektbeziehungstheorie). Auch eine ausführliche Theorie der Konfliktbewältigung und neurotischer Abwehrmechanismen ist vorhanden und ermöglicht, sehr prezise Diagnoseerstellung. Sie arbeiten sehr stark mit der Beziehung von Klient_in und Therapeut_in und sind da an Übertragung und Gegenübertragung besonders interessiert.
Hinter diesem Instrumentarium liegt ein zum Teil mechanisches Menschenbild. Die Idee, dass es möglich ist, eindeutige Aussagen über die Klient_in zu tätigen, wenn wir das, was sie erlebt hat, wissen. (Da gibt es auch einen wichtigen Unterschied innerhalb der tiefenpsychologischen Methoden: ob das Erlebte oder das Erfahrene entscheidend ist). Unter dieser Perspektive ist die Therapeut_in eine Wissende. Es gibt Fakten über die Psyche der Klient_in, die sie weiß, obwohl diese für die Klient_in nicht zugänglich sind.
Weitere Merkmale sind der Sexualtrieb, Liebe, die Idee der vollkommen Befriedigung in der Verschmelzung. Ihre Maßlosigkeit. Die Art der Befriedigung in der Kindheit bestimmt das Verhalten des Erwachsenen auch in der Erfüllung von "höheren" Bedürfnissen, wie die Sinnfindung.
Die maßlosen Wünschen können nicht ungehemmt befriedigt werden. Die Maßlosigkeit ist nicht nur gesellschaftlich unfähig, sondern macht auch Angst. Viele Wünsche werden daher sofort ins Unbewusste verdrängt (sowie der Schmerz ihrer Nichterfüllung). Alle diese Konflikte erzeugen Neurosen, und die unterschiedlichen Arten, damit umzugehen, sind Basis der Neurosenlehre.
Parallel dazu kommt die Objektbeziehungstheorie. Da geht es um die Entwicklung der Möglichkeiten des Kindes, Beziehung einzugehen (von der Symbiose zur Automonie). Sie steht nicht im Widesrpruch zur Trieblehre sondern vervollständigt sie.

Schauen wir uns diese Aspekte an konkreten Fallbeispielen an. Wir können in der Fallbeschreibung sehen, wie sich der Therapeut folgende Aspekte beachtet:

  • Unbewusste Elemente
  • Übertragung und Gegenübertragung
  • neurotische Abwehrmechanismen

Schlagwörter aus der Broschüre des Ministeriums3:

  1. Einsicht,
  2. Unbewusstes,
  3. Konfliktbearbeitung,
  4. Kindheitserfahrungen,
  5. Autonomie,
  6. Übertragung,
  7. Liebes- und Arbeitsfähigkeit.

3.4 Die Verhaltenstherapie

Die Psychoanalyse hat in der Psychosexualität die Triebfeder des Menschen gesehen. Das hatte die Zerstörung des Mythos der höheren Entwicklung des bürgerlichen Menschen zur Folge . Freud hatte zwar die Wurzel für Kunst und Wissenschaft mitbedacht, die in der frühen Suche nach Liebe, Lust und Vereinigung liegt sowie in den Möglichkeiten, mit den notwendigerweise auftretenden Versagungen umzugehen. Aber dennoch stand das Bild eines von Trieben gestalteten Mensch in krassem Widerspruch zu dem eines zivilisierten Menschen vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.
Zum Teil als Gegenreaktion entwickelte sich die Verhaltenstherapie. Sie drückt die Hoffnung aus, den Menschen naturwissenschaftlich zu erklären, was sehr stark duch die Verhaltensforschung bei Tieren und durch die Entdeckung von konditionierten Reflexen beeinflusst wurde.
Sie sieht Verhalten als Folge von Konditionierung eines unbefleckten Kindes durch die Erziehung bzw. durch die Gesellschaft. Von diesem etwas mechanistischen Menschenbild wird in manchen Strömungen durch Hinzunahme der kognitiven Entwicklung abgeweicht. Der Mensch denkt auch selbstständig, und die Vernunft wird als ein weiterer gestaltender Faktor gesehen.
Psychische Störung wird als Fehlverhalten gesehen und bedarf einfach einer Neukonditionierung als Behandlung. So ist das Training vom richtigen Verhalten zentral, und es wirkt im Hier und Jetzt. Das Aussetzung der krank machenden Situation, um ein neues Verhalten zu lernen , bzw. zum Zweck der Desensibilisierung, ist die Methode der Wahl. In diesem Sinne können auch Personen, die für die Klient_in unterstützend wirken, in die Behandlung miteinbezogen werden. Zur Methode gehört auch die Erforschung und Verstärkung von Ressourcen.

Im Fallbeispiel werden wir versuchen, folgende Aspekte zu erkennen:

  • Naturwissenschaftliche Haltung
  • Fehlverhalten ist Folge von schlechter Konditionierung
  • Neukonditionierung
  • Training
  • Agierende/Lehrende Haltung der Therapeutin

Schlagwörter aus der Broschüre des Ministeriums3:

  • Lernen,
  • Selbstmanagement,
  • Störungsorientierung,
  • Selbstverantwortung,
  • Problemlösung/Lösungsorientierung.

3.5 Personzentrierte Psychotherapie

Wiederum als Gegenpart zu dieser sehr naturalistischen Tendenz entstehen die humanistischen Verfahren.

Für Rogers ist die wichtigste Treibkraft die Aktualisierungstendenz. Eine Tendenz alles Lebendigen, sich zum Besten zu entwickeln, das zu werden, was es wirklich ist. Diese Tendenz ist immer wirksam und je nach dem, wie förderlich die Umgebung ist, kommt sie mehr oder weniger zum Ausdruck. Für den Menschen bedeutet die Aktualisierungstendenz, in der Lage zu sein, Erfahrungen voll wahrzunehmen und sie in seinem Selbst zu integrieren.

Bei Rogers ist die frühkindliche Beziehung von großer Bedeutung. Das Kind braucht die wichtige Andere um sein Selbst zu bilden. Sie lehrt es bei Exempel, wie die Welt ist, und wie sie mit der Welt umgeht. So kann das Kind das Erlebte symbolisieren und in seinem Selbstkonzept integrieren. Es wächst.

Hinderlich für die Entwicklung ist, wenn die wichtige Andere auf Grund ihrer eigenen Einschränkungen dem Kind die Welt/es falsch erklärt. Das Kind gerät in einen Konflikt zwischen der organismischen Wahrnehmung und der Symbolisierung durch die wichtige Andere. Angesichts seiner Abhängigkeit muss es ihrer verzerrten Symbolisierung den Vorrang geben. Es entsteht so ein verzerrtes Bild, das zu Verhaltensproblemen führt, und eine innere Spaltung, die zu großem seelischen Schmerz und Angst führt.
Ein Beispiel: Kind und Mutter sind an der Kassa im Supermarkt und das Kind will ein Zuckerl haben. Die Mutter verweigert es. Das Kind wird wüttend, die Mutter aber sagt: "Gell, es macht dich traurig, dass du kein Zuckerl haben darfst?" So lernt das Kind verzerrt, dass das Gefühl, das es spürt, Traurigkeit ist. Als Erwachsener ist die Person nicht mehr in der Lage Wut zu spüren. Stattdessen fällt sie immer in Traurigkeit.
Die Behandlungmethode setzt auf die Aktualisierungstendenz. Bei Krankheit wird diese natürlich Tendenz blockiert. Alles(!) was es braucht,damit sie wieder in Kraft tritt, ist ein Gegenüber, der oder die mit der Person in Beziehung steht und von ihr wahrgenommen wird, und die eine ganz bestimmte Haltung einnimmt. Diese Haltung ist gekennzeichnet durch drei Grundbedingungen: Empathie, Kongruenz, bedingungslose Wertschätzung.

In Gegensatz zur Psychoanalyse und zur Verhaltenstherapie geht die Personzentrierte Psychotherapie vom einem Bild des nicht Wissens aus. Die Klient_in ist die Expert_in, die Therapeut_in weiß nichts über sie, das nicht durch die Beziehung zu ihr sichtbar wird. Eine Theorie der Persönlichkeit oder des Unbewussten ist daher entbehrlich.

Wichtige Aspekte im Fallbeispiel zum hevorheben:

  • Empathie,
  • Kongruenz,
  • Bedingungslose Wertschätzung,
  • Nicht wissen

Schlagwörter aus der Broschüre des Ministeriums3:

  • Aktualisierungstendenz,
  • Echtheit,
  • Einfühlung,
  • Selbst (Selbstkonzept),
  • Bedingungslose Wertschätzung,
  • Entwicklungspotenzial,
  • Inneres Erleben,
  • Zwischenmenschliche Beziehung

3.6 Gestalttherapeutische Psychotherapie

Die Gestaltherapie ist auch ein humanistisches Verfahren, für das viel vom vorher Gesagtem gilt. Spezifisch ist das Konzept vom Kontaktzyklus. Eine Beziehung verläuft immer in diesem Zyklus, der wie die Nahrungsaufnahme vier Phasen hat: 1. Vorkontakt: Aus dem Organismus oder der Umwelt taucht ein Verlangen bzw. ein Reiz auf, der zur Figur wird (aus der Sicht des Selbst wird der übrige Körper bzw. die übrige Umwelt zum Hintergrund). Die Wahl des hervortretenden Elementes wird dabei durch viele Faktoren bestimmt, die man grob unter dem Begriff „Interesse“ zusammenfassen könnte. 2. Kontaktaufnahme: Das Verlangen tritt in den Hintergrund, und als Figur tritt ein „Suchbild“ für die Möglichkeiten zur Befriedigung auf; das „ad-greddi“ rückt in den Vordergrund, Möglichkeiten werden differenziert und ausgewählt - hier ist die Funktion des Ich entscheidend. 3. Kontaktvollzug: Im Kontakt selbst sind Körper und Umwelt Hintergrund, die Figur und der Kontakt selbst werden intensiv erlebt. Die Intention des Ich wird in die Spontaneität des Selbst transformiert, d. h., die ganze Person ist nun vom Erleben (Wahrnehmen, Fühlen) erfasst. 4. Nachkontakt: Der Kontaktprozess ist zu Ende, das Selbst verblasst, die Figur tritt in den Hintergrund zurück. In der Begegnung mit dem „Nicht-Selbst“ vollzog sich im optimalen Fall ein Wachstums- und Reifeschritt. Der Organismus ist nun bereit für den nächsten Kontaktzyklus. 9
Krankheit entsteht, wenn dieser Kontaktzyklus unterbrochen wird (durch Blokade oder Abwehr). Die Art der Unterbrechung wiederholt sich im Hier und Jetzt in der Beziehung zur Klient_in und ist daher ein sehr gutes Arbeitswerkzeug. Weiteres Werkzeug ist der "leere Stuhl", der Platzwechsel, die Körperwahrnehmung.
Im Fallbeispiel schauen wir nach diesen Aspekte:

  • Kontakt
  • Kontaktunterbrechung
  • Konfrontativ
  • Leerer Stuhl
  • Körperbezogen

Schlagwörter aus der Broschüre des Ministeriums3:

  1. Erlebnisaktivierung,
  2. Aktive Problembewältigung,
  3. Förderung der Beziehungsfähigkeit,
  4. Kreativitätsförderung

3.7 Systemische Psychotherapie

Die systemische Psychotherapie ist die jüngste dieser fünf Methodenrichtungen. Ihr Paradigma ist die naturwissenscahftliche Systemtheorie.
Für sie ist das System das Thema. Das System ist das Motiv, das das Individuum bewegt, um nicht aus seiner Rolle im System zu fallen. Ziel der Therapie ist es, das System mit allen Agenten und Rollen sichtbar zu machen. Dadurch erlangt die Klient_in mehr Freiheit, sich im System zu bewegen. Krankheit wird als Disfunktion des Systems gesehen, wofür die Klientin Symtomträger ist.
Warum das System das ist, was es ist, wird nicht gefragt, es wird als vorgegeben betrachtet. Ein weiterer Aspekt ist die Bedeutungsgebung: also durch die Interpretation der Rolle im System bekommt sie ihre Wirkungsweise auf den Einzelnen. Die Systemtherapie ist ein starkes kontruktivistisches Gebäude.

In der Fallbearbeitung können wir folgenden Merkmale gut sehen:

  • Das System ist das Thema
  • Rollen
  • Interpretation der Rollen
  • Das Individuum als Symptomträger
  • Lösungen werden konstruiert

Schlagwörter aus der Broschüre des Ministeriums3:

  1. Wertschätzung der Person,
  2. Achtsamkeit für Kompetenzen und Fähigkeiten der Klient_innen,
  3. Probleme in Beziehungszusammenhängen betrachten,
  4. Ressourcen- und Lösungsorientierung,
  5. Konstruktivistische Grundhaltung

5. SCHLUSSFOLGERUNGEN

Ich schließe diesen Kurs mit einem Satz von Jaeggi, E. (1997)7. Nachdem sie sich zur Psychoanalyse bekennt, fügt sie hinzu:

"Ich kann aber mit großer Sicherheit sagen, dass psychoanalytisch behandelte Patienten nicht bessere Heilungschancen haben als andere (auch keine schlechteren!), hinterher nicht als die vollkommeneren Menschen dastehen und nicht in jedem Fall bessere Einsichten produzieren."


REFERENZEN

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  1. Bachler, H. J. (2010). „AD(H)S - Pandemie oder gesellschaftliche Hysterie?“ Psychotherapie Forum, 18, 4, 201–207
  2. Buchholz, Michael B. (2007). Das Können des Unbegrifflichen. http://www.dgpt.de/dokumente/PNL-59.pdf (10.10.09).
  3. Bundesministerium für Gesundheit (2014). "Patientinnen / Patienten - Information über die in Österreich anerkannten psychotherapeutischen Methoden". http://www.bmg.gv.at/cms/home/attachments/7/0/5/CH1002/CMS1415709133783/psychotherapie_methoden_in_oesterreich.pdf (14.01.2016)
  4. Foucault, M. (1969). Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main
  5. Freud, S. (1917/1991). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Fischer, Frankfurt am Main
  6. Hörmann, G. & Textor, M. (Hrsg.) (1998). Praxis der Psychotherapie. Fünf Therapien. Fünf Fallbeispiele. 2. Aufl. D. Klotz: Eschborn.
  7. Jaeggi, E. (1997). Zu heilen die zerstoßnen Herzen. Die Hauptrichtungen der Psychotherapie und ihre Menschenbilder. 2. Aufl. Hamburg Reinbek.
  8. Kraiker, C. & Peter, B. (Hrsg.) (1998). Psychotherapieführer: Wege zur seelischen Gesundheit. 5. vollst. überarb. und aktualisierte Aufl. München: Beck.
  9. Kriz, J. (2001). Grundkonzepte der Psychotherapie. Eine Einführung. 5. vollst. überarb. Aufl. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
  10. Slunecko, Th. (Hrsg.) (2009). Psychotherapie. Eine Einführung. Wien: Facultas-WUV/UTB
  11. Stumm, G. & Wirth, B. (Hrsg.) (1994). Psychotherapie: Schulen und Methoden. Eine Orientierungshilfe für Theorie und Praxis. 2. überarb. und erw. Aufl. Wien: Falter-Verlag.
  12. Tzvetan Todorov (2008), Die Eroberung Amerikas: das Problem des Anderen, ISBN 978-3-518-11213-7